Doppelt gefordert – Praktische Tipps für Zwillingseltern
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Dies ist ein Gastbeitrag von Julia Berger. Julia wohnt in der Nähe von Berlin und ist Autorin bei WeAreMoms.de. Diesen Beitrag hat Julia gemeinsam mit einer Freundin, welche Zwillingsmama ist, geschrieben.

Ihr bekommt Zwillinge? Diese Nachricht ist erst einmal wunderschön! Allerdings geht die Erziehung von Zwillingen mit zahlreichen Herausforderungen einher. Ein Erfahrungsbericht mit ein paar Tipps für frischgebackene Zwillingseltern.

Die ersten Wochen nach der Geburt.

Ich würde Zwillinge bekommen. Diese Nachricht brachte mich und meinen Partner zum Strahlen. Befürchtungen und Sorgen traten da erst Mal in den Hintergrund. Zunächst war da einzig und allein die Vorfreude auf die Kinder. Dann kam jedoch die „harte Landung“.

Stillen, Füttern, Wickeln und dann noch den Haushalt meistern, sind schon mit einem Baby nicht ohne. Mit Zwillingen war das schon etwas völlig anderes. Mit zwei Babys tun sich zwangsläufig mehrere Fragen auf.

Stille ich meine Zwillinge einzeln oder zur gleichen Zeit? Kann ich beide Babys voll stillen? Haben meine Babys den gleichen Schlafrhythmus?

Stillen, Wickeln & Schlafrhythmus: Nach der Geburt von Zwillingen steht das Leben auf dem Kopf. Du musst dich erst Mal in deinem neuen Leben einrichten. Besonders gefordert haben meinen Partner und mich folgende Situationen:

  • Stillen: Das Wichtigste zuerst. Mach dir keine Sorgen! Du kannst sehr wahrscheinlich beide Babys voll stillen. Denn die Muttermilch wird durch das Saugen an der Brust angeregt. In den allermeisten Fällen ist genug Milch für beide Kinder da.
  • Wickeln: Für Zwillinge empfiehlt sich eine breite Wickelmatte. So haben beide Geschwisterchen auf der Matte Platz. Falls dir das zu stressig ist: Bring eines der Babys an einen sicheren Platz. So kannst du dich mit voller Aufmerksamkeit auf das eine Baby auf der Wickelmatte konzentrieren.
  • Windeln: Diese Unmengen an Windelabfall, die da produziert werden. Schon bei einem Baby ist es gewaltig. Bei Zwillingen entsprechend schlimmer. Wir haben daher früh auf Stoffwindeln umgestellt. Das schont neben der Umwelt auch den Geldbeutel. Hier gibt’s eine gute Übersicht über die besten Stoffwindeln.
  • Schlafrhythmus: Ganz wichtig für dich und auch die beiden Babys ist die Entwicklung eines gemeinsamen Schlafrhythmus. Bei mir hat es deshalb geholfen, beide Babys im gleichen Bett schlafen zu lassen. Zudem habe ich beide gleichzeitig bzw. kurz nacheinander gestillt und gebadet. Zum Stillen gibt’s spezielle Zwillings-Stillkissen. Dadurch haben sie den gleichen (Schlaf-) Rhythmus entwickelt.

Unterstützung und finanzielle Sorgen.

Ich ging nach der Geburt meiner Zwillinge in Mutterschutz. Mein Partner ging weiterhin zur Arbeit, damit wir unseren Lebensunterhalt bestreiten, und die Zwillinge versorgen konnten. Ein Thema, welches mich doch recht früh umtrieb, waren die finanziellen Sorgen. Mein Partner und ich arbeiten beide im Sozialbereich, der bekanntlich nicht so gut bezahlt wird.

Woran man oft nicht denkt: Bei Zwillingen muss wirklich vieles doppelt gekauft werden. Während bei Geschwisterchen im Abstand von zwei, drei Jahren Kleidung, Milchflaschen oder Kindersitz teilweise wiederverwendet werden können, muss dies bei Zwillingen zweifach her.

Eine weitere Herausforderung für uns: Das soziale Netzwerk. Meine Mutter lebt zwar in der Nähe, allerdings ist sie schon älter und gebrechlich. Damit wir sie nicht ständig um Hilfe bitten mussten, machten wir uns natürlich auch Gedanken darum, wer uns nach der Geburt mit den Babys hilft.

Je größer dein soziales Netzwerk ist, desto leichter fällt die Umstellung nach der Geburt. Nicht umsonst gibt es den Spruch: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“. Hol dir also jede erdenkliche Hilfe!

  • Deine Hebamme unterstützt dich auch noch nach der Geburt.
  • Wenn möglich, bitte die Großeltern um Unterstützung!
  • Bitte auch Freunde um Unterstützung!
  • Beratungsstellen für Familien können dir ebenfalls weiterhelfen.

Eine immense Erleichterung für Zwillingseltern sind finanzielle Hilfen vom Staat. Das steht euch zu bzw. das müsst ihr beantragen:

  • Elterngeld fällt bei Zwillingen höher aus.
  • Der Mehrlingszuschlag berücksichtigt die finanzielle Doppelbelastung.
  • Du hast noch ein kleines Kind? Dann nimm den Geschwisterbonus in Anspruch!
  • Für all diese Hilfen musst du Anträge stellen.
  • Hier findest du zudem eine gute Übersicht über Zwillingsrabatte.

Alles doppelt einkaufen.

Unsere 2-Zimmer-Wohnung würde mit Zwillingen viel zu klein sein. Das wurde uns ganz schnell klar. Wir mussten uns um eine neue Wohnung kümmern. Dazu musste deren Eingangstür breit genug sein. Immerhin musste bald ein Zwillingskinderwagen durch die Tür passen.

Fragen die sich uns aufdrängten: Müssen wir jetzt alles doppelt kaufen? Schon ein Baby stellt das Leben auf den Kopf. Zahlreiche Besorgungen müssen erledigt werden. Kuscheltiere, Kleidung, Babygeschirr, Spielzeug usw. müssen besorgt werden.

Und ja, einiges muss doppelt oder zumindest in grösserer Menge gekauft werden. Unter anderem diese Dinge:

  • Beistellbettchen (1 x die XXL Variante tuts hier allerdings auch)
  • Stillkissen
  • Tragetücher
  • Kindersitz
  • Babywippen
  • Kleidung
  • Milchflaschen
  • Windeln

Für eine der kostenintensivsten Anschaffungen gibt’s aber Entwarnung: Spielzeuge brauchst du nicht doppelt kaufen. Viele Babys haben nämlich unterschiedliche Präferenzen. Und wenn sie doch das gleiche Spielzeug zur gleichen Zeit wollen? Tja, unsere haben dann eben gelernt gemeinsam zu spielen.

Rausgehen mit Zwillingen.

Langsam hatten wir den Dreh raus. Wir gewöhnten uns an unser neues, schönes Leben. Wir wussten wo wir fragen mussten, wenn wir Hilfe benötigten. Unsere süßen Babys wuchsen langsam zu Kleinkindern heran. Und stellten uns vor ganz neue Herausforderungen.

Rausgehen mit den Zwillingen? Eine Neverending-Story, vor der uns niemand gewarnt hat. Die Kinder müssen bei Laune gehalten werden. Als Mama habe ich nur zwei freie Hände. Wenn ich allein bin, sitzen die Kinder erst nacheinander im Auto. Da kommt es häufig zu Unmut oder Geschrei.

Und am Spielplatz geht es weiter: Stolpern, Geschrei, kleinere Verletzungen und Tränen! Puh! So ein Besuch am Spielplatz kann ganz schön herausfordernd sein.

Mit kleinen Zwillingen auf den Spielplatz? Was so harmlos klingt, kann zu einer ganz schönen Herausforderung werden. Hier meine Tipps, damit ihr (etwas) gelassener bleibt:

  • Such dir Begleitung! Ob Oma, Tante oder Freundin – vier Augen können besser aufpassen als zwei.
  • Spielplätze mit Zäunen sind sicherer! Besonders wenn deine Kinder schon rennen können.
  • Ein kleiner Snack hilft, wenn ein Kind beim Raus- oder Heimgehen quengelig wird.

Beiden Zwillingen gerecht werden.

Die größte und wichtigste Frage, die uns umtrieb: Wie werden wir beiden Zwillingen wirklich gerecht?

Wir wollten ihnen das Beste bieten. Für beide gleich viel Zeit haben. Ihnen unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und Liebe zu Teil werden lassen. In der Praxis jedoch gar nicht so einfach.

Unser Sohn ist quirlig, lebendig und voller Energie.

Unsere Tochter eher ruhig, sanft und sensibel.

Unser Sohn war häufig sehr vereinnahmend. Uns quälte die Sorge: Bekommt unser Sohn dadurch mehr Aufmerksamkeit als unsere Tochter? Bleibt sie auf der Strecke zurück? Dann auch noch der Vergleich mit befreundeten Eltern. Sind wir gut genug für unsere Kinder?

Eine Frage, die sich wohl alle Zwillingseltern stellen: Werde ich beiden Zwillingen gerecht? Selbstverständlich möchtest du keines der beiden Kinder bevorzugen. In der Praxis sieht das manchmal jedoch anders aus. Kinder konfrontieren einen sofort damit, wenn das Geschwisterchen mehr Kakao im Becher hat oder du nur mit einem Kind schimpfst.

Mein Tipp dazu: Schnapp dir daher wenn es möglich ist zwischendurch eins von beiden Kindern, und schenke ihm deine volle Aufmerksamkeit! Am besten auch noch mit viel Umarmungen und Körperkontakt. Dein Kind fühlt sich dadurch wichtig und wertvoll. Zudem stärkst du sein Urvertrauen.

Das ist meine Meinung dazu

Das Leben mit Zwillingen stellt dich vor zahlreiche Herausforderungen. Und es ist chaotisch, laut und bunt. Ein soziales Netzwerk entlastet dich aber in vielerlei Hinsicht. Scheue dich nicht davor, um Hilfe zu bitten!

Viele Dinge pendeln sich nach der Geburt ein. Und einiges braucht seine Zeit! Aber es lohnt sich!

Text © Julia Berger, Foto Kristin Gründler

Corona-Eltern in der Krise sind kein politisches Versagen, sondern Kalkül
Ein Gastbeitrag von  Dr. Franziska Briest, Wissenschaftlerin an der Charité, Kommunalpolitikerin, Autorin und Mutter

Politisch tolerierter Ausnahmezustand

Ausnahmezustand. Besser kann man die letzten dreizehn Wochen nicht beschreiben.

Dreizehn Wochen, in denen wir anfänglich jeden Tag auf Infektionszahlen geachtet, uns über Hamsterkäufe beschwert und an das Tragen von Masken gewöhnt haben.

Viele von uns dachten zum ersten Mal darüber nach, welche Berufsgruppen unser tägliches Leben tatsächlich am Laufen halten. Wir fuhren unsere sozialen Kontakte auf ein Minimum zurück, lernten fünf verschiedene Videokonferenztools zu bedienen und verabschiedeten uns wehmütig von geplanten Urlauben, Ausflügen, Sportveranstaltungen und Kulturveranstaltungen.

Wir blieben zu Hause, erklärten schriftliche Multiplikation, bauten Legotürme, schnitten Haare, kochten, putzen, trösteten, schlichteten Streit und ersetzten Kindergeburtstagspartygäste zwischen Videokonferenzen und Abgabefristen.

Letztlich gab es eine große Unbekannte – und zunächst ergab ein schneller Shutdown auf allen Ebenen auch tatsächlich Sinn.

In den Wochen der vollständigen Isolation und mit Beginn der Öffnungen dämmerte es dann aber Vielen, dass nicht nur die Regeln zum Kontaktverbot einen zwangsläufigen Rückzug auf die traditionelle Kernfamilie erzwang und damit Familienkonstellationen und Rollenbilder reaktivierte, die die Realität vieler moderner Familien völlig ignorierte. Auch die Prioritäten der Lockerungen spiegelten eher die wirtschaftspolitische Gewichtung der dahinter stehenden Stakeholder wider, als dass sie irgendeiner Form von gesundheits-, sozial- oder bildungspolitischer Evidenz zu folgen schienen.

Mehr als ein Bauchgefühl

Schauen wir uns einmal ein paar Zahlen an: laut einer Studie gaben 54 Prozent der befragten Frauen, aber nur 12 Prozent der Männer an, den überwiegenden Teil der anfallenden Kinderbetreuung während der Pandemie zu übernehmen[1].Gleichzeitig sahen die Kontaktbeschränkungen sechs Wochen lang vor, dass sich maximal zwei Personen aus unterschiedlichen Haushalten treffen durften. Damit wurden für betreuungspflichtige Kinder und die überwiegend weiblichen Betreuungspersonen jegliche Sozialkontakte außerhalb der Familie über Wochen unterbunden.

Familienleben in Familienkonstellationen die nicht auf einem Zusammenleben zweier erwachsener Personen beruhen, z. B. bei Patchwork- und Scheidungsfamilien[2], war damit unmöglich geworden. Aber auch wichtige soziale Interaktion, und damit Unterstützungsleistungen wie die effektive Konsultation von Dritten, z. B. in Fällen häuslicher Gewalt, wurde zwangsläufig auf null herunter gefahren, bei Wegfall aller professionellen Präsenzangebote von Beratungsstellen.

Gleichzeitig sind Frauen auch beruflich überproportional von den Folgen der Pandemie betroffen. Sie sind im Zuge der Krise häufiger, vor allem im Einzelhandel, Gastgewerbe und informellen Sektor, von Kündigung und Arbeitszeitreduktion betroffen und erhielten deutlich seltener eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes[1]. Auch die zusätzlich anfallende Sorgearbeit führt vor allem bei Frauen zu Arbeitszeitreduktionen: Gut ein Viertel aller befragten Frauen mit Kindern bis zu 14 Jahren, aber nur ein Sechstel der befragten Männer mussten ihre Arbeitszeit wegen der Betreuungssituation reduzieren[1], Mütter werden also nicht nur überproportional zur Aufgabe ihrer Sozialkontakte, sondern auch in eine verstärkte finanzielle Abhängigkeit getrieben. Man möchte glatt mit Frauengold auf die Renaissance der Fünfzigerjahremütter anstoßen!

Besonders prekär ist die Situation bei Alleinerziehenden: hier sind über 80 Prozent weiblich[3] – ein Wegfall von Betreuung, Unterstützung durch Dritte und Einkommensverluste treffen somit überproportional Frauen und Kinder. Dazu kommen für die im Homeoffice tätigen Eltern, die Kinder betreuen müssen, der Wegfall wichtiger Projekte und die damit einhergehenden verpassten Karrierechancen – auch hier sind überproportional Frauen von der ungleichen Aufteilung betroffen. Und selbst bei paritätischer Arbeitsteilung mit dem Partner oder der Partnerin: beruflich stehen Mütter in Konkurrenz zu Kinderlosen und zu Männern in Familien mit klassischer Rollenverteilung.

Die Öffnung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen hätte unter Aspekten der Gleichberechtigung oberste Priorität sein müssen!

Wenn man sich nun im Gegenzug zu den Belastungen die Reihenfolge der Entlastungen anschaut, klaffen grundlegende Notwendigkeiten und die politische Schwerpunktsetzung von Bund und Ländern unter vorgeschobener Berufung auf das Vorsorgeprinzip auseinander:

Am 20. April öffnet der erste Teil des Einzelhandels wieder, erst danach öffnen Spielplätze, Museen, Zoos und Kirchen, am 4. Mai beginnen die ersten Bundesländer die Kontaktbeschränkungen auf fünf Personen aus zwei Haushalten auszuweiten, die Friseure öffnen wieder. Während die Bundesliga der Männer (nicht die der Frauen!) am 16. Mai und passend dazu die Biergärten in Bayern am 18. Mai öffnen, gefolgt von den Innenbereichen der Gastronomie am 25. Mai[4][5], soll die Notbetreuung in den Bayrischen Kitas erst ab 15. Juni ausgeweitet[6]und ein Präsenzunterricht für alle Klassenstufen an den Schulen wieder aufgenommen werden[7].

Fehlende Evidenz

Dabei fehlt dem strengen Festhalten an Schul- und Kita-Schließungen zumindest bereits seit einigen Wochen die wissenschaftliche Evidenz, vor allem vor dem Hintergrund, dass allen übrigen Lockerungsmaßnahmen die Beweislast nicht auferlegt wird. Mit dem Beweisen ist das nämlich so eine Sache – in der Regel ist es deutlich leichter, Existenz von etwas nachzuweisen (eben zum Beispiel, dass Kinder Virenschleudern sind), als das Nicht-Vorhandensein.

Aus ebenjenem Grund liegt die juristische Beweislast in der Regel auch nicht bei den Angeklagten und sind klinische Studien selbst unter kontrollierten Bedingungen aufwendig und anspruchsvoll. Ich vergleiche das gerne mit dem Nachweis, dass es das Ungeheuer von Loch Ness nicht gibt: zum Beweis des Vorhandenseins reichte das Einfangen, vielleicht DNA-Proben oder ein überzeugendes Foto, für den Beweis des Gegenteils müsste man den See leerpumpen und selbst dann beweist man den Fakt gerade einmal für die Gegenwart.

Ein ähnliches Problem zeigt sich im Übrigen in der kontrovers diskutierten Studie von Prof. Christian Drosten und seinen Kolleginnen und Kollegen[8]: das Team konnte nicht nachweisen, dass sich die Viruslast bei Kindern von der Erwachsener signifikant unterscheidet und leitet daraus ab, dass Kinder ein ähnliches Infektionsrisiko wie Erwachsene haben könnten. Da aber die Aussagekraft dieser Berechnungen von der Wahl der statistischen Methode abhängt (manche Methoden sind strenger und verwerfen eine Hypothese eher als andere) bedeutet dies nicht, dass damit bewiesen wurde, die Viruslast sei nicht unterschiedlich.

Wissenschaftlich gesehen ist das Versagen eines Tests nicht gleichzusetzen mit dem Beweis des Gegenteils. Bloß, weil etwas nicht als ungleich bewiesen werden kann, ist es noch lange nicht gleich, solange nicht die Gleichheit bewiesen wurde. Es gibt also auch keinen Grund anzunehmen, dass Kinder Virenschleudern sind, weil das Gegenteil bisher (aufgrund von geringen Fallzahlen und schlechter Vergleichbarkeit der verfügbaren Daten) noch nicht belegt werden konnte. Eine Aussage, die man über Erwachsene übrigens relativ unproblematisch treffen könnte und trotzdem versucht man, zu differenzieren. Und ob Abstände so viel weniger von Kindern eingehalten werden als von Erwachsenen, daran lassen jüngste Bilder von Bundesligaspielen, Demonstrationen und Coronaparties tatsächlich zweifeln.

Um eines klarzustellen: die Schließungen der Kinderbetreuungseinrichtung und Schulen war ein richtiger Schritt zu einem Zeitpunkt, an dem Information zu Übertragungswegen fehlte und die Ausbreitung in Deutschland eine Geschwindigkeit erreicht hatte, bei der Containment, also Maßnahmen, die der Nachverfolgung und Unterbrechung von Infektionsketten dienen, nicht mehr leistbar war. Dass der Effekt von Schließungen letztlich vielleicht vor allem auf einem Verbannen von circa elf Millionen Eltern ins Homehoffice beruht und dass bekannte infektionsbiologische Mechanismen, z.B. aus Grippeepidemien, nicht auf Sars-Cov-2 übertragbar sein könnten, wäre zumindest aber bereits Anfang April aufgrund der vorliegenden Literatur diskussionswürdig gewesen[9].

Seit Mitte April häufen sich die Daten aus aller Welt, die dafür sprechen, dass junge Kinder sich zwar mit dem Virus infizieren können, aber es möglichweise doch nicht in einem Maße weiter geben wie Erwachsene und Schulschließungen bei älteren Kindern womöglich sogar kontraproduktiv sein könnten, weil sie dann mehr unkontrollierte Kontakte zu anderen Menschen haben[10][11][12][13][14][15]16].Vermutlich werden wir erst in einigen Monaten genaue Schlüsse ziehen können und ganz sicher wird es Infektionsfälle geben, die mit Schulbesuchen in Verbindung stehen.

Solche Fälle wird es in jedem Bereich des täglichen Lebens geben und das Ziel muss immer sein, die Lage kontrollierbar zu halten. Und dennoch ist zynisch zu behaupten, dass ausgerechnet die Wiederaufnahme des Bildungsbetriebes, der irgendwie zwischen Tattoostudios und Bordellen eingetaktet wird, ein riskantes Experiment sei, angesichts der vielen beruflichen, psychologischen und bildungspolitischen Unbekannten die sich für Kinder und ihre Familien aus dem langen Zögern ergeben haben.

Verheerende Kommunikation

Die Prioritätensetzung bei Schulen und Kitas (first to close, last to open) übermittelt nun zwei verheerende Botschaften. Erstens: Eltern sind Berufstätige zweiter Klasse. Wenn die Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität ein zentraler Punkt der Coronamaßnahmen war – wieso versetzt man dann mehr als elf Millionen Menschen in den Standby-Modus, während die Wirtschaft hochgefahren wird? Übersetzt auf die Zahlen, wer derzeit die Kinderbetreuung abfängt, bedeutet das zugespitzt: Mütter sind Berufstätige zweiter Klasse.

Und diese Aussage ist gar nicht so abwegig angesichts einer gesellschaftlichen Realität, in der Frauen immer noch zu großen Teilen Teilzeit arbeiten, sobald die Familie gegründet ist und kinderlose Frauen mit Anfang dreißig ungern eingestellt werden. Hier wurde lediglich ein Narrativ, gegen das Feministinnen und Feministen seit Jahrzehnten kämpfen, unreflektiert in politische Entscheidungen eingegossen.

Die zweite Botschaft ist: Männer geben weiterhin den Ton an. Sie dominieren die beratenden und entscheidenden Gremien und sie profitieren vom Ergebnis. Wie kann eine andere Perspektive, als die Perspektive älterer Männer in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, wenn ältere Männer älteren Männern zu Entscheidungen raten, die älteren Männern nutzen? Sowohl die öffentliche wissenschaftliche Debatte, als auch die politischen Beratungen (sei es in den männerdominierten Gremien der Leopoldina oder des Coronakabinetts[17], in Talkshows, Podcasts, Zeitungsartikeln oder RKI-Pressekonferenzen) werden von Männern determiniert.

Und wenn dann der Fokus eben auf BMW, Bundesliga und Biergarten liegt, mag das zunächst wie ein Klischee klingen. Einem hochangesehenen Professor wird niemand hedonistische Beweggründe unterstellen. Letztlich suchen sich aber politische Akteure aus der Fülle der nicht abgeschlossenen wissenschaftlichen Debatten die passenden Argumente raus und multiplizieren sie. Diese sind dann nur schwer wieder aus der Welt zu bekommen, wie man am widerlegten Framing „Coronavirusschleuder Kind“ unschwer nachvollziehen kann.  Und am Ende bedienen sie damit eine Klientel, die sehr wohl gut damit leben kann, wenn junge Frauen ihre Karrieren zurückstellen müssen, solange nur wieder die Bundesliga im Fernsehen läuft.

Wieso aber das Ganze?

Wenn wir zusammen fassen, stellen wir fest, dass die Verlierer all dieser Entscheidungen Familien sind, die vom althergebrachten Bild abweichen, Frauen, die wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen und die Kinder, die mit diesem modernen Familienbild aufwachsen.

Dem gegenüber stehen mit den Gremien konservativer Institutionen und einer konservativen Bundesregierung Vertreter klassische reaktionäre Kräfte, die Privilegien zu sichern haben. Besonders perfide wird das Ganze unter Berücksichtigung der Tatsache, dass alle Corona-Maßnahmen vor allem die Risikogruppen schützen sollen, unter denen sich allein aus demografischen Gründen ein hoher Anteil an Menschen mit konservativem Wertekatalog findet.

Daher kann es kein Versehen sein, dass ebenjene, die für gesellschaftliche Veränderungen stehen, praktisch im Homeoffice vergessen wurden.

Daher ist es paternalistisch, wenn uns von älteren Generationen gesagt wird, wir sollen nicht jammern.

Daher steckt eine politische Agenda dahinter, wenn die Bundesregierung mit Wirtschaftsverbänden verhandelt, aber die Verantwortung für „Kinder und Gedöns“ an die Länder und Kommunen weiterreicht.

Daher müssen wir diese Narrative sichtbar machen und umwandeln!

Wenn wir uns über die Unmöglichkeit der Vereinbarkeit von Homeoffice und Kinderbetreuung äußern, ist das kein Jammern, sondern das Aufzeigen einer Ausnahmesituation, die niemand nur deshalb runterspielen kann, weil er in den 1950ern auch mal ein Kind ohne Kita groß gezogen hat. Und auf deren Behebung oder Kompensation wir bestehen.

Wenn wir mal wieder an die Gläserne Decke stoßen, die für Mütter noch tiefer hängt als für andere Frauen, müssen wir diese anprangern, anstatt uns dafür zu entschuldigen, dass wir gerade neben unserem Jobs noch die Qualifikation zu Erzieherinnen, Lehrerinnen, Köchinnen und vielem mehr erwerben.

Und wir müssen politische Verantwortung dafür übernehmen, dass Frauen und Kinder in dieser Gesellschaft sichtbarer werden. Das tun wir am besten indem wir Frauen und Kindern empowern und beteiligen wo es uns möglich ist, anstatt in Konkurrenz miteinander zu treten. Sonst teilen wir weiterhin nur das kleine Stückchen Macht unter uns auf, das andere uns zugestehen.

Foto & Text Copyright bei Dr. Franziska Briest

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1 Bettina Kohlrausch und Aline Zucco, Hans-Böckler-Stiftung, Policy Brief WSI, Nr.40, 05/2020
2 Geschwister, nicht verwandte Elternteile und Bezugspersonen
3  Statistisches Bundesamt (Destatis), Alleinerziehende, Ergebnisse des Mikrozensus 2017, 2018
4.  https://www.mdr.de/nachrichten/politik/corona-chronik-chronologie-coronavirus-100.html
5.  https://www.br.de/radio/bayern1/gaststaetten-bayern-corona-100.html
6. https://www.stmas.bayern.de/coronavirus-info/corona-kindertagesbetreuung.php
7. https://www.km.bayern.de/allgemein/meldung/6964/so-geht-es-an-den-schulen-in-bayern-weiter.html
8. Jones TC, Mühlemann B, et al. An analysis of SARS-CoV-2 viral load by patient age. medRxiv 2020.06.08.20125484; doi: https://doi.org/10.1101/2020.06.08.20125484
9. Viner RM, Russell SJ, Croker H, et al. School closure and management practices during coronavirus outbreaks including COVID-19: a rapid systematic review. Lancet Child Adolesc Health. 2020;4(5):397‐404. doi:10.1016/S2352-4642(20)30095-X
10  Zhu Y, Bloxham CJ, Hulme KD, Sinclair JE, Tong ZWM, Steele LE, et al. Children are unlikely to have been the primary source of household SARS- CoV-2 infections. medRxiv. 2020:2020.03.26.20044826.
11  Danis K, Epaulard O, Bénet T, Gaymard A, Campoy S, Bothelo-Nevers E, et al. Cluster of coronavirus disease 2019 (Covid-19) in the French Alps, 2020. Clinical Infectious Diseases. 2020.
12  Gudbjartsson DF, Helgason A, Jonsson H, Magnusson OT, Melsted P, Norddahl GL, et al. Spread of SARS-CoV-2 in the Icelandic Population. New England Journal of Medicine. 2020.
13 http://ncirs.org.au/covid-19-in-schools
14  National Institute for Public Health and the Environment. Children and COVID- 19. https://www.rivm.nl/en/novel-coronavirus-covid-19/children-and-covid-19 : RIVM 2020.
15  Desmet S, Ekinci E, et al. No SARS-CoV-2 carriage observed in children attending daycare centers during the first weeks of the epidemic in Belgium. medRxiv 2020.05.13.20095190; doi: https://doi.org/10.1101/2020.05.13.20095190
16 https://www.thelocal.no/20200508/closing-schools-may-made-virus-spread-faster-norway-health-agency
17 Drucksache 19/19525, Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode
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