Lieber Leser, dieses Interview liegt mir sehr am Herzen. Ich möchte mit einem Vorwort beginnen, welches nach meinem Empfinden auch sehr gut zum Beitragsbild passt, und damit auch zum heutigen Thema. Bei dem Vorwort handelt es sich nicht um meine Worte, sondern um die Worte von Tabea, die auch meine heutige Interviewpartnerin ist.
Bitte lass diese Worte wirken und stelle dir folgendes vor:
Du bist bspw. 1 ½ Jahre alt, du wirst aus deinem gewohnten zu Hause gerissen und bei Fremden untergebracht. Deine Eltern (egal, WIE sie sind – es sind deine Eltern, die du lieb hast) siehst du ab diesem Zeitpunkt nur noch ein bis zwei Mal in der Woche für jeweils eine Stunde – wiederum in fremder Umgebung unter Beobachtung von noch mehr Unbekannten. Nach einigen Wochen fängst du an, dich zu arrangieren – die Kinder bei den Fremden sind nett und lustig, die Erwachsenen sind auch okay, du kriegst Essen und Trinken, kannst spielen, erlebst Freud und Leid, durchlebst Frühling, Sommer, Herbst und Winter – einfach Familienleben. Alles wird irgendwann einfacher, normaler für dich. Du gehörst dazu! Und dann kommt der Zeitpunkt (vielleicht bist du dann schon 3 Jahre alt?), an dem du da PLÖTZLICH UND SCHON WIEDER weg musst. Alles, was normal und gewohnt war, ist abermals verschwunden.
Das Interview zur Online Petition
Liebe Tabea, direkt zu Anfang möchte ich dir sagen, dass es großartig ist, Menschen wie dich kennenzulernen. Menschen, die unsere Gesellschaft zu einem besseren Ort machen möchten, und zwar den schwächsten und kleinsten Mitgliedern. Bevor wir uns diesen zuwenden, ist es auch wichtig etwas über dich zu erfahren. Daher erzähle mir doch ein wenig von dir und stelle dich kurz vor.
Hallo Nadja, erst einmal DANKE für die Möglichkeit, die Du hier bietest, einen Blick hinter Kulissen zu werfen: Einblicke in ganz normal-verrückte Familien, aber auch Einblicke in die Ecken unserer Gesellschaft, wo man nicht so befreit hinschauen mag. Beides finde ich wichtig und hilfreich. Ich – 40 Jahre, verheiratet, gesegnet mit drei gesunden Kindern im Alter von 12, 10 und sieben Jahren. Ich bin Ergotherapeutin, gesellschaftsspielfreudig,freikirchliche Christin, Leseratte und FC-Fan (ob es da Zusammenhänge gibt, kann ich nicht sagen).
Neben diesen tragenden Säulen in meinem Leben ist da auch noch unsere Arbeit als Bereitschaftspflege-Familie. Wir nehmen Kinder vorübergehend bei uns auf, die (aus welchen Gründen auch immer) nicht in ihren Herkunftsfamilien verbleiben können.
Tabea, du bist wirklich eine Powerfrau. Kannst du mir sagen, wie es dazu kam, dass du Bereitschaftspflege-Mutter geworden bist?
Nun, wir haben uns als Eltern seit unserem ersten Kind immer gegenseitig daran erinnert, dass jede Zeit mit unseren Kindern etwas Besonderes ist. Wenn es sehr stressig, aufregend oder absolut nervig war, hat mir das immer geholfen. Jedes Alter hat etwas Tolles – sowohl wir als Eltern, als auch unsere Kinder möchten das bewusst durchleben.
Uns war aber auch klar, dass es viele Kinder gibt, denen es nicht so gut geht, wie unseren eigenen. So haben wir gespendet – an SOS-Kinderdörfer oder Kinderhospize…
Irgendwann jedoch haben wir gemerkt: das reicht uns nicht! Für Kinder, die direkt neben uns leiden, müssen wir etwas TUN. Wir haben uns beim Jugendamt gemeldet, und als unser Jüngster vier Jahre alt war, hatten wir das erste Kind in der Bereitschaft bei uns.
Wie wird man eigentlich genau Bereitschaftspflege-Mutter? Kann jeder Bereitschaftspflege-Mutter werden? Gibt es Auflagen o. ä.?
Ich habe bei unserem Jugendamt angerufen und nachgefragt, wohin ich mich wenden muss, wenn wir eine Bereitschaftspflegefamilie werden wollen. Dann mussten wir ein kleines Prozedere durchlaufen – Gespräche, Hausbesuche, Fragebögen, ärztliches Attest, polizeiliches Führungszeugnis. Am Ende hat’s gereicht. Voraussetzungen gibt es einige, aber keine festgelegten – es ist von Amt zu Amt (oder von Träger zu Träger), von Stadt zu Stadt, von Kreis zu Kreis, von Land zu Land unterschiedlich. Klar, man sollte irgendwie Erfahrungen in der Erziehung oder pädagogische Kenntnisse haben, man sollte belastbar sein (jedes Kind bringt einen Rucksack mit seiner bisherigen Lebensgeschichte mit), je nach Alter des Kindes wenigstens ein freies Bett im Haus, und finanziell auf festen Füßen stehen. In den letzten Jahren wurde an der Gewinnung neuer Bereitschaftspflegefamilien viel gearbeitet.
Inzwischen ist oft ein Kurs notwendig, wo man auf diese Aufgabe vorbereitet wird. Das ist natürlich sinnvoll! Wer sich damit beschäftigt, Bereitschaftspflegefamilie zu werden, muss einfach in seinem Umkreis nachfragen, welche Voraussetzungen mitgebracht werden sollten.
Seit wann bist du Bereitschaftspflege-Mutter und wie viele Kinder befanden sich bisher in deiner Obhut?
Wir machen die Bereitschaftspflege seit fast vier Jahren. Im Moment haben wir das siebte Kind bei uns (der kürzeste Verbleib waren sechs Wochen, der längste Verbleib 13 Monate.
Was ist deiner Meinung nach die größte Herausforderung als Bereitschaftspflege-Mutter? Welche Punkte unterscheiden den Alltag einer Bereitschaftspflege-Mutter vom Alltag einer gewöhnlichen Mama?
Der Alltag einer „gewöhnlichen“ Mama sieht kaum anders aus, als der einer Bereitschaftspflege-Mutter. Klar, kommen ein paar „Extras“ dazu: es finden regelmäßig geplante Treffen mit der Herkunftsfamilie statt (meist zwei Mal wöchentlich für eine Stunde, das ist aber alters- und perspektivabhängig), man schreibt Verlaufsberichte über das Kind (wie verhält und entwickelt sich das Kind in den verschiedenen Bereichen) oder muss eventuell spezielle Ärzte oder Therapeuten aufsuchen.
Die größte Herausforderung allerdings ist, einem völlig fremden Kind erst Nestwärme und Struktur, dann Kraft und Selbstbewusstsein für den weiteren Lebensweg mitzugeben. Bei den eigenen Kindern hat man dafür Jaaaaahre Zeit – vom Babyknuddeln bis zum Auszug. Hier muss man immer den Gedanken im Kopf und Herz behalten „KIND, DU BIST GAST“.
Ist es emotional nicht sehr belastend, ein Kind wieder aus seiner Obhut geben zu müssen, zu dem schon eine emotionale Bindung besteht? Das ist es sicherlich auch für das Kind, welches sich bei euch als Bereitschaftspflege-Familie in Obhut befindet?
Ja, natürlich! Und je länger so ein Kind bei uns „zu Gast“ ist, umso schwerer wird es. So ein Kind findet sich ja ganz schnell ein – es arrangiert sich erst, dann lebt es sich ein, dann wird es wie selbstverständlich Teil der Familie. Es teilt den Alltag mit uns – von Montag bis Sonntag, 0.00 Uhr bis 23.59 Uhr, Januar bis Dezember, Winter bis Herbst, alle Geburts- und Feiertage.
Abhängig ist es aber auch davon, wohin wir das Kind „weitergeben“ – geht es zurück in seine Familie? Hat sich dort soweit alles gefestigt und wird das Kind es dort gut haben oder haben wir Bauchweh, wenn wir daran denken? Geht es in eine Dauerpflege? Wird es dort auf liebe Eltern, vielleicht Geschwister und Haustiere treffen, behalten wir den Kontakt, können wir hin und wieder erfahren, wie es dem Kind geht? Solche Sachen erleichtern oder erschweren den Abschied.
An dieser Stelle möchte ich gerne auf deine Petition zu sprechen kommen. Du hast eine Online-Petition ins Leben gerufen, die sich an den Petitionsausschusses des Bundestages, Frau Bundesministerin Giffey und Frau Bundesministerin Barley, richtet. Du forderst in dieser eine schnellere Entscheidungen für das Kindeswohl. Damit meinst du vor allen Dingen die Zeit, die es braucht, bis entschieden wird, wie es mit dem Kind weitergeht. Diese ist wohl sehr von der Perspektivklärung abhängig. Was verstehe ich genau darunter?
Ja, diese Begriffe immer! Aus eigener Erfahrung und aus den Erfahrungen anderer Bereitschaftspflegefamilien sehen wir, dass dieser Prozess der Entscheidung – wo wird die Zukunft des Kindes stattfinden? – oft lahmt. Das hängt an vielen Faktoren. Angefangen von den Jugendamtsmitarbeitern (die einfach zu viele Kinder, Jugendliche und Familien begleiten und Entscheidungen für diese zu treffen haben), weiter über die Gerichte (letztlich hörte ich, dass hier im Umkreis ein Familienrichter auf seinem Schreibtisch durchschnittlich 80 „Fälle“ zu liegen hat), die Herkunftsfamilien (viele Mütter und Väter möchten für ihre Kinder viel erreichen und scheitern an ihren eigenen Ansprüchen, viele gehen auch gerichtlich gegen die Entscheidungen von den Ämtern vor) und beispielsweise die Gutachter (häufig fordert der Richter ein „Erziehungsfähigkeitsgutachten“ an, um sich und seine Entscheidung abzusichern – der Gutachter muss also das Kind, die Eltern und Verwandten, jeden einzeln und im Verbund in den unterschiedlichen Situationen beobachten, testen, beurteilen, das dauert – wenn es gründlich gemacht wird – ungefähr ein halbes Jahr).
An so einer Entscheidung FÜR das Kind sind Viele beteiligt (am wenigsten das Kind).
Nun haben wir überlegt, wo kann man denn ansetzen, damit es schneller entschieden werden kann? Wenn ein Richter einen zweiten Kollegen bekommt, hat jeder anstatt 80 „Fälle“ nur noch 40 – da hat man doch schon mehr den Kopf frei. Bei den Jugendamtsmitarbeitern sieht es ähnlich aus. Sie können noch so bemüht sein, auch ihr Tag hat nur 24 Stunden! Gäbe es von diesen Menschen mehr, wäre die Lage für ein Kind doch schon wesentlich entspannter.
An einem guten Gutachten und an den unterschiedlichsten Herkunftsfamilien kann man nicht drehen. Vielleicht gelingt es ja so, dass die Kinder – um die es doch geht – auch in den Blickpunkt kommen.
Ihr Wohl, ihre Rechte sollten bedacht und gestärkt werden. Es kann nicht der Sinn sein, dass ein Kind über Monate (oder Jahre!) auf einem „Sprungbrett“ steht, bis geklärt ist: wer lässt das Wasser ins Becken des Lebens und wie weit wird der Hahn aufgedreht? Das Kind steht frierend oben und wartet auf den Absprung in das warme umhüllende Wasser.
Gab es einen Auslöser, der dazu geführt hat, dass du diese Online-Petition ins Leben gerufen hast?
Ja, wir haben bei unserem Träger regelmäßige Treffen mit den anderen Bereitschaftspflegefamilien. Dort tauschen wir uns aus über Anliegen, Probleme, Freud und Leid. Letztes Jahr gab es zwei Familien, die Kinder schon weit über ein Jahr hinaus bei sich hatten (ein Kind wurde nach 23 Monaten!!! in eine Dauerpflegefamilie vermittelt). Es wurde „im Rudel“ geklagt: „es ist so nervenzehrend“, „man kann nichts tun“, „man steht nur hilflos wartend daneben“…
Da hat es bei mir „pling!“ gemacht – gibt es wirklich NICHTS, was man tun kann?! Naja, und dann kam mir die Idee mit der Petition.
Was ist dein Ziel, was möchtest du erreichen? Gab es schon Teilerfolge? Positives Feedback aufgrund deines Appels an die Jugendämter: Schnelle Entscheidungen für das Kindeswohl?
Ich möchte unterm Strich etwas FÜR die Kinder ändern. Bei der Petition habe ich mir das Ziel „50.000 Unterzeichner“ gesetzt.
Eigentlich nicht viel – wenn man bedenkt, wie viele Kinder es in Deutschland gibt, wie viele dazugehörige Eltern, Tanten, Onkel und Großeltern. Das geht doch Alle etwas an! Wer geht an einem Kind vorbei, das gerade auf die Nase gefallen ist? Niemand (hoffe ich)! Aber für Kinder, denen viel Schlimmeres als eine Schramme widerfährt, setzt sich nur eine „Handvoll“ Menschen ein. Warum? Kinder haben keine Lobby!
Ich denke, dass die Petition ein Anfang sein kann. Unsere Gesellschaft muss sich wieder mehr auf ihre Kinder besinnen! Sie sind unsere Zukunft! Was sagt es über eine Gesellschaft aus, in der im Jahr 2017 über 60.000 Kinder in Obhut genommen wurden?
Warum dauert es so lange, bis für die Zukunft eines Kindes eine Entscheidung gefällt werden kann? Eine Kindheit ist endlich!
Ich habe schon sehr viele positive Rückmeldungen bekommen, Zuschriften, Mails, Gespräche… (Viele auch mit Ideen, wie die Petition noch „erweitert“ werden kann, gute Ideen, wirklich! Aber es muss erst einmal ein Anfang gemacht werden…) Die SPD-Ortsfraktion hatte mich eingeladen, um mich anzuhören und wird eine Anfrage über die Kreisfraktion einreichen. Zeitungen haben oder werden über die Petition berichten – ich habe schon einige Kontakte mit anderen Pflegeeltern vermittelt, die mit Journalisten ihrer lokalen Presse reden (werden).
Ansonsten nehme ich vermehrt wahr, dass das Thema in der Politik ankommt (und da ist vermutlich nicht meine Petition ausschlaggebend): die Anfrage der LINKEN im Bundestag zur Situation des Pflegekinderwesens oder eine Kampagne, die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegeben hat, um festzustellen, wo der Schuh in der Kinder- und Jugendhilfe drückt (da wurde die Basis in der Erarbeitung mit einbezogen! Mitreden – mitgestalten).
Das macht Mut, dass etwas geschieht – nicht nur geredet wird.
Liebe Tabea, wir alle sollten uns für die schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft einsetzen. Meine Stimme hast du. Gibt es noch etwas was ich für dich tun kann, außer diesen Beitrag mit meinen Lesern zu teilen. Wie können wir alle dein Vorhaben unterstützen?
Na, als erstes natürlich die Petition unterzeichnen und weiter unters Volk bringen (WhatsApp, Facebook, Mail, Unterschriftenlisten – alles ist heutzutage möglich).
Vielleicht fühlt sich der Ein oder Andere auch berufen, selbst etwas zu TUN für Kinder (nicht nur unterschreiben, teilen oder spenden).
Nicht nur die Jugendämter würden sich freuen über neue Bewerber als (Bereitschafts-)Pflegefamilie, auch Kindergärten freuen sich über Lesepaten, Schulen über Bibliotheksmitarbeiter, Sportvereine über Waschmaschinen, die dreckige Trikots waschen.
Das, was man mit Kindern erlebt und teilt, bereichert ungemein! Also: nur Mut!
Deine Stimme zählt – so gelangst du zur Petition
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