Corona-Eltern in der Krise sind kein politisches Versagen, sondern Kalkül
Ein Gastbeitrag von  Dr. Franziska Briest, Wissenschaftlerin an der Charité, Kommunalpolitikerin, Autorin und Mutter

Politisch tolerierter Ausnahmezustand

Ausnahmezustand. Besser kann man die letzten dreizehn Wochen nicht beschreiben.

Dreizehn Wochen, in denen wir anfänglich jeden Tag auf Infektionszahlen geachtet, uns über Hamsterkäufe beschwert und an das Tragen von Masken gewöhnt haben.

Viele von uns dachten zum ersten Mal darüber nach, welche Berufsgruppen unser tägliches Leben tatsächlich am Laufen halten. Wir fuhren unsere sozialen Kontakte auf ein Minimum zurück, lernten fünf verschiedene Videokonferenztools zu bedienen und verabschiedeten uns wehmütig von geplanten Urlauben, Ausflügen, Sportveranstaltungen und Kulturveranstaltungen.

Wir blieben zu Hause, erklärten schriftliche Multiplikation, bauten Legotürme, schnitten Haare, kochten, putzen, trösteten, schlichteten Streit und ersetzten Kindergeburtstagspartygäste zwischen Videokonferenzen und Abgabefristen.

Letztlich gab es eine große Unbekannte – und zunächst ergab ein schneller Shutdown auf allen Ebenen auch tatsächlich Sinn.

In den Wochen der vollständigen Isolation und mit Beginn der Öffnungen dämmerte es dann aber Vielen, dass nicht nur die Regeln zum Kontaktverbot einen zwangsläufigen Rückzug auf die traditionelle Kernfamilie erzwang und damit Familienkonstellationen und Rollenbilder reaktivierte, die die Realität vieler moderner Familien völlig ignorierte. Auch die Prioritäten der Lockerungen spiegelten eher die wirtschaftspolitische Gewichtung der dahinter stehenden Stakeholder wider, als dass sie irgendeiner Form von gesundheits-, sozial- oder bildungspolitischer Evidenz zu folgen schienen.

Mehr als ein Bauchgefühl

Schauen wir uns einmal ein paar Zahlen an: laut einer Studie gaben 54 Prozent der befragten Frauen, aber nur 12 Prozent der Männer an, den überwiegenden Teil der anfallenden Kinderbetreuung während der Pandemie zu übernehmen[1].Gleichzeitig sahen die Kontaktbeschränkungen sechs Wochen lang vor, dass sich maximal zwei Personen aus unterschiedlichen Haushalten treffen durften. Damit wurden für betreuungspflichtige Kinder und die überwiegend weiblichen Betreuungspersonen jegliche Sozialkontakte außerhalb der Familie über Wochen unterbunden.

Familienleben in Familienkonstellationen die nicht auf einem Zusammenleben zweier erwachsener Personen beruhen, z. B. bei Patchwork- und Scheidungsfamilien[2], war damit unmöglich geworden. Aber auch wichtige soziale Interaktion, und damit Unterstützungsleistungen wie die effektive Konsultation von Dritten, z. B. in Fällen häuslicher Gewalt, wurde zwangsläufig auf null herunter gefahren, bei Wegfall aller professionellen Präsenzangebote von Beratungsstellen.

Gleichzeitig sind Frauen auch beruflich überproportional von den Folgen der Pandemie betroffen. Sie sind im Zuge der Krise häufiger, vor allem im Einzelhandel, Gastgewerbe und informellen Sektor, von Kündigung und Arbeitszeitreduktion betroffen und erhielten deutlich seltener eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes[1]. Auch die zusätzlich anfallende Sorgearbeit führt vor allem bei Frauen zu Arbeitszeitreduktionen: Gut ein Viertel aller befragten Frauen mit Kindern bis zu 14 Jahren, aber nur ein Sechstel der befragten Männer mussten ihre Arbeitszeit wegen der Betreuungssituation reduzieren[1], Mütter werden also nicht nur überproportional zur Aufgabe ihrer Sozialkontakte, sondern auch in eine verstärkte finanzielle Abhängigkeit getrieben. Man möchte glatt mit Frauengold auf die Renaissance der Fünfzigerjahremütter anstoßen!

Besonders prekär ist die Situation bei Alleinerziehenden: hier sind über 80 Prozent weiblich[3] – ein Wegfall von Betreuung, Unterstützung durch Dritte und Einkommensverluste treffen somit überproportional Frauen und Kinder. Dazu kommen für die im Homeoffice tätigen Eltern, die Kinder betreuen müssen, der Wegfall wichtiger Projekte und die damit einhergehenden verpassten Karrierechancen – auch hier sind überproportional Frauen von der ungleichen Aufteilung betroffen. Und selbst bei paritätischer Arbeitsteilung mit dem Partner oder der Partnerin: beruflich stehen Mütter in Konkurrenz zu Kinderlosen und zu Männern in Familien mit klassischer Rollenverteilung.

Die Öffnung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen hätte unter Aspekten der Gleichberechtigung oberste Priorität sein müssen!

Wenn man sich nun im Gegenzug zu den Belastungen die Reihenfolge der Entlastungen anschaut, klaffen grundlegende Notwendigkeiten und die politische Schwerpunktsetzung von Bund und Ländern unter vorgeschobener Berufung auf das Vorsorgeprinzip auseinander:

Am 20. April öffnet der erste Teil des Einzelhandels wieder, erst danach öffnen Spielplätze, Museen, Zoos und Kirchen, am 4. Mai beginnen die ersten Bundesländer die Kontaktbeschränkungen auf fünf Personen aus zwei Haushalten auszuweiten, die Friseure öffnen wieder. Während die Bundesliga der Männer (nicht die der Frauen!) am 16. Mai und passend dazu die Biergärten in Bayern am 18. Mai öffnen, gefolgt von den Innenbereichen der Gastronomie am 25. Mai[4][5], soll die Notbetreuung in den Bayrischen Kitas erst ab 15. Juni ausgeweitet[6]und ein Präsenzunterricht für alle Klassenstufen an den Schulen wieder aufgenommen werden[7].

Fehlende Evidenz

Dabei fehlt dem strengen Festhalten an Schul- und Kita-Schließungen zumindest bereits seit einigen Wochen die wissenschaftliche Evidenz, vor allem vor dem Hintergrund, dass allen übrigen Lockerungsmaßnahmen die Beweislast nicht auferlegt wird. Mit dem Beweisen ist das nämlich so eine Sache – in der Regel ist es deutlich leichter, Existenz von etwas nachzuweisen (eben zum Beispiel, dass Kinder Virenschleudern sind), als das Nicht-Vorhandensein.

Aus ebenjenem Grund liegt die juristische Beweislast in der Regel auch nicht bei den Angeklagten und sind klinische Studien selbst unter kontrollierten Bedingungen aufwendig und anspruchsvoll. Ich vergleiche das gerne mit dem Nachweis, dass es das Ungeheuer von Loch Ness nicht gibt: zum Beweis des Vorhandenseins reichte das Einfangen, vielleicht DNA-Proben oder ein überzeugendes Foto, für den Beweis des Gegenteils müsste man den See leerpumpen und selbst dann beweist man den Fakt gerade einmal für die Gegenwart.

Ein ähnliches Problem zeigt sich im Übrigen in der kontrovers diskutierten Studie von Prof. Christian Drosten und seinen Kolleginnen und Kollegen[8]: das Team konnte nicht nachweisen, dass sich die Viruslast bei Kindern von der Erwachsener signifikant unterscheidet und leitet daraus ab, dass Kinder ein ähnliches Infektionsrisiko wie Erwachsene haben könnten. Da aber die Aussagekraft dieser Berechnungen von der Wahl der statistischen Methode abhängt (manche Methoden sind strenger und verwerfen eine Hypothese eher als andere) bedeutet dies nicht, dass damit bewiesen wurde, die Viruslast sei nicht unterschiedlich.

Wissenschaftlich gesehen ist das Versagen eines Tests nicht gleichzusetzen mit dem Beweis des Gegenteils. Bloß, weil etwas nicht als ungleich bewiesen werden kann, ist es noch lange nicht gleich, solange nicht die Gleichheit bewiesen wurde. Es gibt also auch keinen Grund anzunehmen, dass Kinder Virenschleudern sind, weil das Gegenteil bisher (aufgrund von geringen Fallzahlen und schlechter Vergleichbarkeit der verfügbaren Daten) noch nicht belegt werden konnte. Eine Aussage, die man über Erwachsene übrigens relativ unproblematisch treffen könnte und trotzdem versucht man, zu differenzieren. Und ob Abstände so viel weniger von Kindern eingehalten werden als von Erwachsenen, daran lassen jüngste Bilder von Bundesligaspielen, Demonstrationen und Coronaparties tatsächlich zweifeln.

Um eines klarzustellen: die Schließungen der Kinderbetreuungseinrichtung und Schulen war ein richtiger Schritt zu einem Zeitpunkt, an dem Information zu Übertragungswegen fehlte und die Ausbreitung in Deutschland eine Geschwindigkeit erreicht hatte, bei der Containment, also Maßnahmen, die der Nachverfolgung und Unterbrechung von Infektionsketten dienen, nicht mehr leistbar war. Dass der Effekt von Schließungen letztlich vielleicht vor allem auf einem Verbannen von circa elf Millionen Eltern ins Homehoffice beruht und dass bekannte infektionsbiologische Mechanismen, z.B. aus Grippeepidemien, nicht auf Sars-Cov-2 übertragbar sein könnten, wäre zumindest aber bereits Anfang April aufgrund der vorliegenden Literatur diskussionswürdig gewesen[9].

Seit Mitte April häufen sich die Daten aus aller Welt, die dafür sprechen, dass junge Kinder sich zwar mit dem Virus infizieren können, aber es möglichweise doch nicht in einem Maße weiter geben wie Erwachsene und Schulschließungen bei älteren Kindern womöglich sogar kontraproduktiv sein könnten, weil sie dann mehr unkontrollierte Kontakte zu anderen Menschen haben[10][11][12][13][14][15]16].Vermutlich werden wir erst in einigen Monaten genaue Schlüsse ziehen können und ganz sicher wird es Infektionsfälle geben, die mit Schulbesuchen in Verbindung stehen.

Solche Fälle wird es in jedem Bereich des täglichen Lebens geben und das Ziel muss immer sein, die Lage kontrollierbar zu halten. Und dennoch ist zynisch zu behaupten, dass ausgerechnet die Wiederaufnahme des Bildungsbetriebes, der irgendwie zwischen Tattoostudios und Bordellen eingetaktet wird, ein riskantes Experiment sei, angesichts der vielen beruflichen, psychologischen und bildungspolitischen Unbekannten die sich für Kinder und ihre Familien aus dem langen Zögern ergeben haben.

Verheerende Kommunikation

Die Prioritätensetzung bei Schulen und Kitas (first to close, last to open) übermittelt nun zwei verheerende Botschaften. Erstens: Eltern sind Berufstätige zweiter Klasse. Wenn die Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität ein zentraler Punkt der Coronamaßnahmen war – wieso versetzt man dann mehr als elf Millionen Menschen in den Standby-Modus, während die Wirtschaft hochgefahren wird? Übersetzt auf die Zahlen, wer derzeit die Kinderbetreuung abfängt, bedeutet das zugespitzt: Mütter sind Berufstätige zweiter Klasse.

Und diese Aussage ist gar nicht so abwegig angesichts einer gesellschaftlichen Realität, in der Frauen immer noch zu großen Teilen Teilzeit arbeiten, sobald die Familie gegründet ist und kinderlose Frauen mit Anfang dreißig ungern eingestellt werden. Hier wurde lediglich ein Narrativ, gegen das Feministinnen und Feministen seit Jahrzehnten kämpfen, unreflektiert in politische Entscheidungen eingegossen.

Die zweite Botschaft ist: Männer geben weiterhin den Ton an. Sie dominieren die beratenden und entscheidenden Gremien und sie profitieren vom Ergebnis. Wie kann eine andere Perspektive, als die Perspektive älterer Männer in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, wenn ältere Männer älteren Männern zu Entscheidungen raten, die älteren Männern nutzen? Sowohl die öffentliche wissenschaftliche Debatte, als auch die politischen Beratungen (sei es in den männerdominierten Gremien der Leopoldina oder des Coronakabinetts[17], in Talkshows, Podcasts, Zeitungsartikeln oder RKI-Pressekonferenzen) werden von Männern determiniert.

Und wenn dann der Fokus eben auf BMW, Bundesliga und Biergarten liegt, mag das zunächst wie ein Klischee klingen. Einem hochangesehenen Professor wird niemand hedonistische Beweggründe unterstellen. Letztlich suchen sich aber politische Akteure aus der Fülle der nicht abgeschlossenen wissenschaftlichen Debatten die passenden Argumente raus und multiplizieren sie. Diese sind dann nur schwer wieder aus der Welt zu bekommen, wie man am widerlegten Framing „Coronavirusschleuder Kind“ unschwer nachvollziehen kann.  Und am Ende bedienen sie damit eine Klientel, die sehr wohl gut damit leben kann, wenn junge Frauen ihre Karrieren zurückstellen müssen, solange nur wieder die Bundesliga im Fernsehen läuft.

Wieso aber das Ganze?

Wenn wir zusammen fassen, stellen wir fest, dass die Verlierer all dieser Entscheidungen Familien sind, die vom althergebrachten Bild abweichen, Frauen, die wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen und die Kinder, die mit diesem modernen Familienbild aufwachsen.

Dem gegenüber stehen mit den Gremien konservativer Institutionen und einer konservativen Bundesregierung Vertreter klassische reaktionäre Kräfte, die Privilegien zu sichern haben. Besonders perfide wird das Ganze unter Berücksichtigung der Tatsache, dass alle Corona-Maßnahmen vor allem die Risikogruppen schützen sollen, unter denen sich allein aus demografischen Gründen ein hoher Anteil an Menschen mit konservativem Wertekatalog findet.

Daher kann es kein Versehen sein, dass ebenjene, die für gesellschaftliche Veränderungen stehen, praktisch im Homeoffice vergessen wurden.

Daher ist es paternalistisch, wenn uns von älteren Generationen gesagt wird, wir sollen nicht jammern.

Daher steckt eine politische Agenda dahinter, wenn die Bundesregierung mit Wirtschaftsverbänden verhandelt, aber die Verantwortung für „Kinder und Gedöns“ an die Länder und Kommunen weiterreicht.

Daher müssen wir diese Narrative sichtbar machen und umwandeln!

Wenn wir uns über die Unmöglichkeit der Vereinbarkeit von Homeoffice und Kinderbetreuung äußern, ist das kein Jammern, sondern das Aufzeigen einer Ausnahmesituation, die niemand nur deshalb runterspielen kann, weil er in den 1950ern auch mal ein Kind ohne Kita groß gezogen hat. Und auf deren Behebung oder Kompensation wir bestehen.

Wenn wir mal wieder an die Gläserne Decke stoßen, die für Mütter noch tiefer hängt als für andere Frauen, müssen wir diese anprangern, anstatt uns dafür zu entschuldigen, dass wir gerade neben unserem Jobs noch die Qualifikation zu Erzieherinnen, Lehrerinnen, Köchinnen und vielem mehr erwerben.

Und wir müssen politische Verantwortung dafür übernehmen, dass Frauen und Kinder in dieser Gesellschaft sichtbarer werden. Das tun wir am besten indem wir Frauen und Kindern empowern und beteiligen wo es uns möglich ist, anstatt in Konkurrenz miteinander zu treten. Sonst teilen wir weiterhin nur das kleine Stückchen Macht unter uns auf, das andere uns zugestehen.

Foto & Text Copyright bei Dr. Franziska Briest

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1 Bettina Kohlrausch und Aline Zucco, Hans-Böckler-Stiftung, Policy Brief WSI, Nr.40, 05/2020
2 Geschwister, nicht verwandte Elternteile und Bezugspersonen
3  Statistisches Bundesamt (Destatis), Alleinerziehende, Ergebnisse des Mikrozensus 2017, 2018
4.  https://www.mdr.de/nachrichten/politik/corona-chronik-chronologie-coronavirus-100.html
5.  https://www.br.de/radio/bayern1/gaststaetten-bayern-corona-100.html
6. https://www.stmas.bayern.de/coronavirus-info/corona-kindertagesbetreuung.php
7. https://www.km.bayern.de/allgemein/meldung/6964/so-geht-es-an-den-schulen-in-bayern-weiter.html
8. Jones TC, Mühlemann B, et al. An analysis of SARS-CoV-2 viral load by patient age. medRxiv 2020.06.08.20125484; doi: https://doi.org/10.1101/2020.06.08.20125484
9. Viner RM, Russell SJ, Croker H, et al. School closure and management practices during coronavirus outbreaks including COVID-19: a rapid systematic review. Lancet Child Adolesc Health. 2020;4(5):397‐404. doi:10.1016/S2352-4642(20)30095-X
10  Zhu Y, Bloxham CJ, Hulme KD, Sinclair JE, Tong ZWM, Steele LE, et al. Children are unlikely to have been the primary source of household SARS- CoV-2 infections. medRxiv. 2020:2020.03.26.20044826.
11  Danis K, Epaulard O, Bénet T, Gaymard A, Campoy S, Bothelo-Nevers E, et al. Cluster of coronavirus disease 2019 (Covid-19) in the French Alps, 2020. Clinical Infectious Diseases. 2020.
12  Gudbjartsson DF, Helgason A, Jonsson H, Magnusson OT, Melsted P, Norddahl GL, et al. Spread of SARS-CoV-2 in the Icelandic Population. New England Journal of Medicine. 2020.
13 http://ncirs.org.au/covid-19-in-schools
14  National Institute for Public Health and the Environment. Children and COVID- 19. https://www.rivm.nl/en/novel-coronavirus-covid-19/children-and-covid-19 : RIVM 2020.
15  Desmet S, Ekinci E, et al. No SARS-CoV-2 carriage observed in children attending daycare centers during the first weeks of the epidemic in Belgium. medRxiv 2020.05.13.20095190; doi: https://doi.org/10.1101/2020.05.13.20095190
16 https://www.thelocal.no/20200508/closing-schools-may-made-virus-spread-faster-norway-health-agency
17 Drucksache 19/19525, Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode
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Corona – Wenn der Atem der Welt ganz leise wird

Es ist leise geworden. Beinahe so, als würde der Atem unserer Welt kaum noch vorhanden sein. So fühlt es sich für mich ganz persönlich an, UND DAS ist gespenstisch, surreal und beängstigend.

Auf öffentlichen Wegen sehe ich vereinzelt noch Menschen,

aber es ist, als würde niemand von uns so wirklich existieren. Schon gar nicht, der Mensch, der gerade an uns vorbeigeht. Sein und auch das eigene Verhalten sind auf ABSTAND programmiert. Peinlich ist man bemüht in einem großen Bogen auszuweichen und schaut dabei am besten auch direkt zu Boden.

Das ist „the best way“.

Das macht mich nachdenklich und ich bin auch etwas beunruhigt.

Wie groß ist die Angst vor einer möglichen Infektion von Covid 19 wohl für die meisten von uns? Würden wir noch dazu fähig sein im Notfall Erste Hilfe zu leisten? Was wäre, wenn auf diesen öffentlichen Wegen z. B. ein Mensch zusammenbricht? Was, wenn mir, meinem Mann oder den Kindern etwas passiert?

Beim Einkaufen stoße ich nicht nur vermehrt auf leere Regale,

sondern auch auf Menschen mit Atemschutzmasken und Schutzhandschuhen.

Sollte ich auch Schutzhandschuhe tragen?

Der gewohnte Gang zum Supermarkt fühlt sich auf einmal fremd an. Außerdem dauert jetzt alles doppelt so lang, da es entweder Einlasskontrollen gibt, Sicherheitsabstände einzuhalten sind, oder man die gewünschten Lebensmittel verstärkt suchen muss.

Ich bezahle mit meiner EC-Karte und bin froh, wenn ich wieder im Auto sitze. Die Kinder bleiben ab sofort, auch bei kleineren Einkäufen, die ich sonst zu Fuß mit ihnen erledigt habe, zu Hause bei ihrem Papa.

Ich laufe durch Geisterstädte,

so nenne ich sie ab sofort. Das öffentliche LEBEN dieser Städte ist verschwunden. Ich blicke in leere Schaufenster und Straßencafés. All diese Lebendigkeit fehlt mir so sehr! 

Ich habe mich so auf den Sommer mit meinen Kindern gefreut und auf Zitronen- und Schokoeis aus unserer Lieblings-Eisdiele…

Mein Blick wandert zu den Wohnhäusern,

an denen ich vorbei laufe. Ich sehe niemanden am Fenster stehen oder auf dem Balkon sitzen. Das fällt mir verstärkt auf. Dabei frage ich mich, wie einsam die Menschen sind, die hier wohnen. Dabei denke ich vor allen Dingen an die Menschen, die niemanden haben. Die alleine sind. Die Menschen, die krank sind. Dazu zählen auch die psychisch labilen Menschen in unserer Gesellschaft. Dabei muss ich auch an meine Arbeitskollegin Karin denken, mit der ich vor meiner Elternzeit auf der gleichen Serviceeinheit bei der Justiz gearbeitet habe. An dem Tag, als Karin Selbstmord begangen hat, schrieb sie mir noch eine liebe Whats-App-Nachrich zu meinen Kindern. Karin litt jahrelang an Depressionen, aber sie war in Behandlung, und hatte soweit alles im Griff. Bis der Corona-Virus in unseren Medien beängstigend immer größer und präsenter wurde.

Zu Hause angekommen

laufe ich mit Savannah und Silas die Treppen nach oben in unserem Mehrfamilienhaus. Auf der ersten Etage angekommen fragen die Beiden nach Oma und Opa, denn meine Eltern – Risikogruppe – wohnen bei uns mit im Haus. Ein echter Mehrwert für uns als Familie. Ja, eigentlich…

Savannah und Silas haben einen festen Tag in der Woche, wo sie ihre Großeltern besuchen. Auch sonst sehen die Beiden Oma und Opa oftmals auf unserem Hof oder im Garten und laufen auf meine Eltern zu. Jetzt allerdings erfinde ich jeden Tag neue Ausreden, warum sie NICHT zu Oma und Opa dürfen. Diese Situation ist keineswegs schön und ist belastend. Savannah und Silas haben immer wieder mal eine Mini-Schnupfnase, so dass ich das Immunsystem meiner Eltern nicht belasten möchte.

Ich habe ein schlechtes Gewissen,

wenn Savannah und Silas wieder etwas länger Kinderstunde schauen dürfen. Es ist mir sonst aber nicht möglich den Haushalt etwas auf Vordermann zu bringen, oder auch das Essen für uns als Familie vorzubereiten. Hinzu kommt, dass ich immer wieder mein iPhone in Händen halte. Immer wieder schaue ich nach aktuellen News zum Corona Virus. Es ist wie eine Sucht.

Meine Gedanken, aber auch Sorgen und Ängste

sind in all diesen Tagen so geballt wie noch nie zuvor. Ich sorge mich um die Selbständigkeit meines Mannes. Schaue dabei auch über den Tellerrand und denke dabei an all die kleinen Solo-Künstler, Selbständigen und kleineren, mittelständischen Unternehmen. Wie lange können sie noch existieren? Stürzen wir alle geradewegs in eine große Wirtschaftskrise? Wie verbringen wir die nächsten Tage oder gar Wochen? Folgen neben dem Kontaktverbot noch Ausgangssperren? Was ist richtig, was ist falsch? Was soll ich überhaupt noch denken? Sind Fakten, wirkliche Fakten? 

Angst, dass ich selbst, mein Mann oder unsere Kinder mit dem Corona Virus infiziert werden könnten, habe ich allerdings nicht. Ich denke, dass ist der einzige Weg Immunität zu erlangen, denn einen Impfstoff wird es so schnell nicht geben, und der Corona Virus wird auch nicht einfach so verschwinden. Vermutlich bleibt er, wie es auch die Influenza tut.

Angst habe ich jedoch vor der Präsenz der andauernden Corona-Krise und der damit verbundenen Berichterstattung in unseren Medien oder auf sozialen Netzwerken. Vor Panikmache und was diese Panik, aber auch Angst, mit uns Menschen machen wird, wenn nicht bald – auf welche Art und Weise auch immer – etwas Ruhe und Normalität einkehrt.

Die Lebendigkeit meiner Kinder und ihr Lachen

holt mich immer wieder zurück aus meinem Gedankenkarussell. Unser Familienleben ist gerade nicht mehr so bunt und lebendig, wie es noch vor wenigen Wochen war. Schließlich verbringen wir die meiste Zeit zu Hause. Das ist nicht immer einfach. Ich versuche meinen Kindern unseren Familien-Alltag in dieser Zeit so schön wie möglich zu gestalten, auch wenn ich spüre, dass ich jeden Tag mehr an meine Belastungsgrenze stoße.

Ich bin dankbar für jeden Tag, an dem die Sonne scheint, und wir in den Garten gehen können. Auch versuche ich positiv zu denken und mein inneres Gleichgewicht in Balance zu halten. Trinke viel Ingwertee, ein kleiner Booster, für mein Immunsystem neben viel Bewegung an der frischen Luft.

Das Leben muss weiter gehen oder?

Ps: Zu diesem Beitrag gibt es mal ein Schwarz-Weiß-Foto. Gerade ist mir einfach nach Schwarz-Weiß. Das Foto entstand vor wenigen Tagen in unserem Hausflur, als Savannah ihre Oma durch die Glasscheibe unserer Haustür sah.

Versucht ruhig und gelassen zu bleiben, in einer Situation, die wir momentan nicht ändern können.

Eure

Text und Fotografie © Nadja Moutevelidis